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Vom Fühlen und Leiden (Teil 1) - der ewige Kampf gegen den Seelenschmerz
vom Di, 07. Juli 2015, Susanne Langner

Wenn ich einer Klientin vorschlage, ihre unangenehmen Gefühle genauer zu betrachten und wahrzunehmen, ernte ich manchmal fragende Blicke. "Wozu soll das gut sein? Ich will das doch nicht spüren!"
Schmerzhaftes wollen wir nicht haben und so wehren wir uns und unterdrücken unsere Gefühle, um uns Trauer, Schmerz, Angst, Verzweiflung... vom Leib zu halten. Leider funktioniert es nur bedingt und nicht auf längere Sicht. Schlimmer noch - es macht unser Leid erst richtig leidvoll. Klingt paradox, ist dennoch logisch...

...Wenn wir ein Gefühl nicht fühlen wollen, dann sind wir mit Abwehr beschäftigt.
Wir verkrampfen uns, wir verzweifeln, wir sagen innerlich "Nein, das soll nicht sein".
Wir versuchen unsere Gefühle auf Abstand zu bringen, sie von uns abzutrennen oder "unter dem Deckel" zu halten.
In uns tobt ein innerer Kampf und das hat einige Folgen.

Warum Abwehren von schmerzhaften Gefühlen noch mehr Leid verursachen kann?

  1. Wir werden müde
    Der Kampf gegen den Schmerz kostet uns Energie und Kraft. Wir fühlen uns erschöpft oder werden sogar krank. Und eigentlich könnten wir unsere Kraft im Momenten des Leides gut gebrauchen, um uns wirklich zu helfen. Nur dafür steht sie jetzt nicht mehr zu Verfügung.

  2. Die Ablehnung tut uns weh
    Unsere Gefühle gehören zu uns. Mit ihnen lehnen wir Teile von uns selbst ab.
    Die Ablehnung tut unserer Seele weh, ganz besonders dann, wenn sie von uns selbst kommt.
    Zu einem seelischen Schmerz, den wir sowieso schon erleiden, fügen wir also den Schmerz der Selbst-Ablehnung hinzu.

  3. Die Abtrennung macht uns einsam
    Wenn es uns gelingt, ein schmerzhaftes Gefühl abzuspalten, abzutrennen, wegzuschicken... dann verlieren wir damit den Kontakt zu einem Teil von uns. Und... wir fühlen uns einsamer, leerer, abgetrennter. Verlassen von uns selbst.
    So fügen wir also unserem Leid noch den Schmerz der Verlassenheit hinzu.

  4. Die Lebendigkeit geht verloren
    Leider sind wir nicht fähig, Gefühle wirklich selektiv zu unterdrücken. Vielmehr unterdrücken wir einen Teil unserer gesamten Empfindsamkeit. Mit dem seelischen Schmerz verschwindet also auch die Intensität unserer Freude, die Leidenschaft, die Liebe. Wir büßen einen Teil unsererer Lebendigkeit ein. Geht das weiter so, können wir depressiv werden.

  5. Der Körper schmerzt
    Wenn wir ein Gefühl "weg haben" wollen, reagiert unser Körper mit Verspannung. Um die Stelle im Körper herum, in der die Emotion "sitzt", verkrampfen sich die Muskeln und ein schmerzhafter "Panzer" bildet sich. So fühlen wir z. B. einen schmerzhaften Druck oder Schwere auf der Brust, ein Kloß im Hals, Rückenschmerzen oder Bauchweh.
    So fügen wir also unserem Leid noch den körperlichen Schmerz hinzu.

  6. Wir wissen nicht mehr, was zu tun ist, um zu heilen
    Da wir jetzt aber unsere schmerzhaften Gefühle nicht mehr wahrnehmen, können wir auch nicht auf ihre Botschaften hören und wissen nicht mehr, was wir verändern könnten, um uns wirklich dauerhaft zu heilen. So bleiben wir in der Situation stecken und verpassen die Chance, uns zu helfen.

  7. Wir wissen nicht, was und warum wir tun
    Wir nehmen unsere Gefühle zwar nicht mehr wahr, aber das heißt nicht, dass sie weg sind. Sie sind uns lediglich nicht bewusst. Aber sie wirken weiter und beeinflüssen unsere Handlungen! Nicht immer auf günstige Weise! Nur, da wir unsere Motive jetzt nicht wahrnehmen, haben wir auch nicht mehr im Blick, was und warum wir tun.

  8. Irgendwann kommt es je wieder
    Wir können unsere Gefühle nicht für ewig im Schach halten. Irgendwann kommen sie wieder. Eine Erinnerung, ein schwacher Moment, eine Krankheit, ein Trigger - holen sie wieder raus. Und je länger sie sich "unter dem Deckel" aufgestaut haben, desto größer wird die Wucht sein, mit der sie uns dann erneut überraschen.

  9. Und wenn nicht, dann verpassen wir vielleicht das Leben
    Und falls wir doch genug Kraft haben, um die Gefühle für ewig unter dem Deckel zu halten... na ja, dann ist unser Leben wohl nicht besonders lebendig. Dann machen wir in unserem Leben wohl nichts anders, als zu versuchen, die Gefühle fernzuhalten: unterdrücken, wegschieben, ablenken, berauschen, betäuben, überdecken... und von vorne. Und es bleibt keine Zeit, keine Kraft, um wirklich zu leben.

So führt unsere Abwehr-Reaktion dazu, dass wir unseren Schmerz um ein überflüssiges seelisches und körperliches Leid verstärken, die Chance auf eine Lösung verpassen, unsere Energie und auf längere Sicht unsere Lebendigkeit verlieren.

Dennoch ist diese Reaktion für die meisten von uns eine bevorzugte und natürliche. Denn sie hat auch gute Gründe.

Der Sinn der Abwehr

Als wir noch ganz klein waren und einen großer Seelenschmerz spüren mussten und dabei keine Hilfe von unseren Eltern erfahren haben, so blieb es uns manchmal nichts anderes übrig, als den Schmerz samt einem Teil von uns, tief in uns zu vergraben oder weit weg zu verbannen. So konnten wir weiter leben und weiter funktionieren. Denn der Schmerz war für ein kleines Kind zu viel, um ihn alleine zu tragen.

So ist unsere Fähigkeit, den Seelenschmerz "abzuschalten" eine wichtige Ressource, die uns vielleicht sogar schon mal in unserer Kindheit das Leben gerettet hat.
Und auch heute kann sie uns nützlich sein:
Um mal abzuschalten, Pause zu machen, uns zu erholen.
In Situation, die uns keinen Raum für Auseinandersetzung mit unseren Gefühlen bieten.
Oder wenn wir wackelig auf den Füßen sind und unseren Schmerz nicht halten können.
Oder wenn wir uns ganz einfach für die Abwehr entscheiden wollen.

Das Gute ist nämlich, wir können heute selbst entscheiden, was wir tun.

 

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